Die Gegenwart [Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.02.2004]


Reaktionäres Modell
Von Professor Dr. Alexander Schuller

Wozu brauchen wir die Ehe? Was ist, um es im Jargon zu sagen, der funktionale Stellenwert der Ehe? Liebe und Loyalität, meinte Guido Westerwelle in einem abendlichen Gespräch mit Uli Wickert. Er förderte damit ein gerade grenzenloses und zudem lächerliches Verständnis von Ehe zutage. Wenn nämlich Liebe und Loyalität den Kern der Ehe ausmachten, dann wäre auch eine Ehe zwischen mir und meinem treuen Lumpi legitim. Vor dieser Konsequenz würde vermutlich selbst Westerwelle zurückschrecken.

Daß Westerwelle bei der Definition der Ehe die Sexualität übersah, ist entlarvend. Dabei wissen wir alle, was eine Ehe ist und wozu wir sie brauchen: nämlich um den Erhalt der Gesellschaft in die Zukunft hinein zu sichern, nichts sonst. Insofern haben die Befürworter wie die Gegner der homosexuellen Lebensgemeinschaften am Kern des Themas vorbeigestritten.

Weder ist entscheidend, daß die Ehe - aus christlicher Sicht - ein Sakrament ist, noch, daß die Partner sich lieben. Beides - Sakrament und Liebe - tragen zwar zur Stabilität der Ehe und zum subjektiven Glück der Ehepartner bei, aber weder das eine noch das andere definiert die Ehe. In seinem Text "The Evolution of Human Sexuality" hat Donald Symons im Jahr 1979 die Funktion der Ehe aus evolutionstheoretischer Sicht so beschrieben: Die Frau erhält Verläßlichkeit, das Kind erhält Schutz, und der Mann wird gebändigt. Daraus folgen wichtige kulturelle Werte: Erotik und Bildung, Loyalität und Liebe, Sprache und Transzendenz. Die Ehe ist die fundamentale menschliche Institution.

Bildung, genauer: Sozialisation, verlangt beim Menschen im Unterschied zu allen anderen Tieren eine sehr lange häusliche Pflege. Das hat biologische und kulturelle Ursachen. Der Mensch reift länger und braucht mehr affektive und kommunikative Zuwendung als andere Tiere. Spracherwerb und Identität setzen eine verläßlich vorhandene Bezugsgruppe voraus, die Familie. Die Untersuchungen von Basil Bernstein haben gezeigt, wie sehr sprachliche und damit kognitive Kompetenz von der dauerhaften Gegenwart und der Zuwendung der Eltern abhängen. Das gilt für Industriegesellschaften in besonderem Maß. Hier setzt das Erwachsenenalter mindestens eine Dekade später ein als in Agrargesellschaften oder gar in Jägerkulturen. Das Kind, jedes Kind, braucht also 15 bis 30 Jahre einen institutionell abgesicherten, sozialisierenden Rahmen. Wird ihm der nicht gegeben, entstehen die allseits bekannten Schäden.

In der Familie - wenn sie aus Eltern und Geschwistern besteht - lernt das Kind mit Unterschieden von Macht, Alter und Geschlecht zu leben. Es muß sprachliche, kognitive und affektive Strategien entwickeln und sich zugleich ein orientierungssicheres Bild der Welt aneignen. Insofern sind Familien grundsätzlich unvollständig, wenn sie dieses volle Sozialisationsangebot nicht enthalten, auch wenn es natürlich Ausgleichsmöglichkeiten gibt.

Symons unterscheidet ausdrücklich zwischen männlicher und weiblicher Promiskuität. Er zeigt, daß weibliche Promiskuität in allen Kulturen viel seltener ist als männliche. Er schließt aus dieser anthropologischen Gegebenheit, daß Männer grundsätzlich eine Gefahr für die Kontinuität und die Verbindlichkeit einer Beziehung darstellen und daß sie daher einem institutionellen Zwang unterworfen werden müssen - auch im eigenen Interesse. So läßt sich für alle Gesellschaften und zu allen Zeiten argumentieren. Strategisch dient die Ehe den Interessen des Mannes, emotional denen der Frau. Es handelt sich um einen gewiß prekären, aber evolutionär gesehen genialen Kompromiß, der uns wie alle kulturellen Hochleistungen auch Opfer abfordert.

Für die Kontinuität und die Verbindlichkeit der Elternschaft gibt es auch historische Gründe. Es geht um die Einheit von biologischem, kulturellem und materiellem Erbe, um Generationen- und Zukunftssicherung. Tradition, Gedächtnis und Orientierung sind ohne Eltern und Großeltern ebenso unmöglich wie ohne Kinder und Enkel. Es leuchtet ein, daß in traditionellen Kulturen nicht Liebe oder sexuelle Attraktivität, sondern die jeweiligen Eltern das junge Paar zusammenbringen. Studien unter pakistanischen Ehepartnern in Großbritannien zeigen zudem, daß die Scheidungsrate bei "arranged marriages" sehr viel niedriger ist als bei "love marriages". Eine "Liebesheirat" ist wohl nicht die verläßlichste Voraussetzung für den Erfolg einer Ehe.

Nach dieser Sachlage werfen die gesetzlich ermöglichten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften grundlegende Fragen auf. Welches soziale oder historische Gut, welche Tradition, welche Interessen der homosexuellen Zielgruppe sollen diese Gesetze schützen? Warum sind die homosexuellen Lebensgemeinschaften überhaupt auf zwei Mitglieder beschränkt? Warum wird zudem nicht zwischen männlichen und weiblichen Homosexuellen, insbesondere in bezug auf Promiskuität, unterschieden? Daß die Ehe den Mann wie die Frau einbindet, einengt, "unterdrückt", hat unter homosexuellen Intellektuellen immer schon die Utopie einer "repressionsfreien", einer "entinstitutionalisierten" Sexualität aufscheinen lassen. Warum also wird mit der homosexuellen Lebensgemeinschaft ein in diesem Sinn reaktionäres Modell in den Rang eines gesetzlich geschützten Gutes erhoben, ein Modell, das sich nicht an einem eigenen und damit authentischen, sondern an einem heterosexuellen Weltbild orientiert?

Die Antwort ist offensichtlich: weil der ahnungslose Gesetzgeber den Homosexuellen die Option auf eine eigene Identität verweigert und weil deren Wortführer der Frage nach ihrer historischen und gesellschaftlichen Identität ausweichen. Im "Corydon", seinem 1922 veröffentlichten Plädoyer für die Homosexualität, hat André Gide eine kühne Sicht vorgetragen. Von eheähnlichem Firlefanz ist da nicht die Rede und auch nicht von peinlichen Sommerparaden. Die Homosexualität markiere gegenüber der Heterosexualität einen evolutionären Fortschritt, schreibt Gide. Sie habe ihr biologisches Erbe, ihre biologische Last, alle Angst und Enge, habe Reproduktion und Institution hinter sich gelassen, sei die wahrhaft kultivierte Form der Sexualität. Indem Gide Homosexualität als Utopie entwirft, stellt er sie in den Kontext einer historischen Anthropologie. Zuletzt hat man von James Watson, dem Entdecker der Doppel-Helix und Nobelpreisträger des Jahres 1962, ähnliche Töne gehört.

Daß Kardinal Ratzinger zum Rettungsschlag anhebt, ist ein Indiz, und auch die homosexuelle Lebensgemeinschaft selbst ist ein solches, wenn auch verzweifeltes Indiz. Gide, Watson, Ratzinger, alle fordern eine Bestandsaufnahme: Was bedeutet uns die Ehe heute? Brauchen wir sie und wozu? Demographie und Ökonomie, Psyche und Bildung setzten eine lebendige Ehe voraus, mehr denn je. Aber die Ehe muß anders definiert werden, nicht weiter, sondern enger, nicht demokratisch, sondern ausgerichtet auf ihre Funktion. Nicht jede dahergelaufene Erektion konstituiert Ehe, das sollte wieder klarwerden. In dem von Platon kolportierten Mythos ist die Einheit von Mann und Frau ursprünglicher als die je individuelle Frau und der je individuelle Mann. Die Ehe gibt dem Menschen demnach das, was ihm fehlt: das andere. Sie fügt die seelische und anthropologische Differenz der Geschlechter zu institutioneller Einheit, zur Heimat. Sie verleiht dem ahnungslosen Begehren von Mann und Frau seine historische Würde. Alles andere bedeutete, die Ehe den Impulsen der institutionellen Verwahrlosung auszuliefern. Nur die Bindung von Mann und Frau und Kind ist Ehe, nur sie verwandelt den kostbaren Augenblick des Begehrens in Geschichte und Zukunft. Der Rest ist fun.

*Der Verfasser lehrt Soziologie an der Freien Universität Berlin.

Kastentext:

Nur die Bindung von Mann und Frau und Kindern ist Ehe. Nur die ist historisch legitim.

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